Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit
Vor der Philharmonie steht der Tiergartenstraße zugewendet eine zweiteilige Stahlskulptur. Das Werk des kalifornischen Bildhauers Richard Serra entstand 1987 für die Ausstellung „Der unverbrauchte Blick“ im Martin-Gropius-Bau und wurde durch den Berliner Senat für 535 000 DM erworben. Serra wählte den Aufstellungsort für seine Skulptur Berlin Junction, weil sie mit der Architektur Scharouns korrespondiere.
An dieser Stelle stand einst die Villa Tiergartenstraße 4, 1940 nach der Enteignung der jüdischen Besitzer ausgewählt, die Leitung der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, die zentrale Planungsbehörde für die „Euthanasie“-Morde aufzunehmen. Die Villa Tiergartenstraße 4 wurde in den fünfziger Jahren nach schweren Kriegsbeschädigungen abgerissen.
An die „Aktion T 4“ erinnerte nach den tiefgreifenden Veränderungen des gesamten Stadtviertels nichts mehr. Die Bürgerinitiative, die ebenfalls 1987 den Anstoß gab, an diesem Ort ein Denkmal für die Ermordeten zu errichten, einigte sich mit Senat und Künstler darauf, der Stahlskulptur eine Gedenktafel hinzuzufügen. Die drei mal drei Meter große Bronzetafel, bündig in den Boden eingelassen, verwundert die Vorbeigehenden meist nur dann, wenn Blumen abgelegt wurden. Die Skulptur Berlin Junction wird in der Regel als Kunst am Bau und damit der Philharmonie zugehörig angesehen – wie es ursprünglich auch gedacht war.
„Aktion T 4“ bedeutete Sterilisation und Ermordung von geistig und körperlich kranken Menschen sowie Menschen mit stark eingeschränkten Fähigkeiten, benannt nach der Tiergartenstraße 4. Ein Geheimschreiben Adolf Hitlers, rückdatiert auf den 1. September 1939, ermächtigte Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankenheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“
Die Folgen dieser Ermächtigung für das Land Brandenburg beschreiben die Autorinnen und Autoren in 16 Aufsätzen. Grundlage ihrer Arbeit bildeten die Bestände des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam, des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde und des Archivs zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem. Es werden die rechtlichen und gesundheitspolitischen Maßnahmen auf dem Weg zur „Rassenhygiene“, die brandenburgischen Landesanstalten zwischen Zwangssterilisation und „Euthanasie“ sowie die authentischen Orte und ihr Gedenken thematisiert - ein umfangreiches Unterfangen.
Die Verbindung und Verstrickung von Ärzten, Pflegepersonal, Pharmaindustrie und Juristen wird in jedem der Kapitel überdeutlich. Das Schicksal der entwürdigten und mißbrauchten, dann ermordeten Menschen wird in Beispielen durch die Darlegung einzelner Krankenakten vor Augen geführt. So ist es selbstverständlich keine leichte Lektüre, die uns die AutorInnen bieten. Doch sei ihnen gedankt für die wissenschaftliche Mühe und die enorme psychische Leistung, die das Ziel haben, aufzuklären über das schwerste Kapitel der deutschen Medizingeschichte, dessen Zentrale mitten in Berlin stand.
Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit (= Schriftenreihe zur Medizingeschichte des Landes Brandenburg), Berlin: be.bra Verlag 2002. 480 S. Mit 153 Schwarzweiß- und 11 Farbabbildungen sowie einem Anhang mit Auswahlbibliographie: I. Chronologie der Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ im Spiegel der Literatur, II. Bibliographie zur NS-Euthanasie 1995-2002, III. Heil- und Pflegeanstalten / Psychiatrische Landeskrankenhäuser und einem Personenregister.
Zurück zum Seitenanfang