Alice Salomon: „Wir wollten die Welt verändern ..."

Da es kaum Hochschulen mit weiblichen Namen gibt, mag man sich über die Alice-Salomon-Hochschule einfach freuen. Viel schöner ist es zu erfahren, dass die Namensgeberin auch die Gründerin dieser Schule ist. Alice Salomon (1872-1948), Tochter aus gutem Berliner Hause, war 36 Jahre alt, als sie diesen Schritt wagte und die Soziale Frauenschule gründete.

 

Alice Salomon und ihre Weggefährtinnen in der Sozialen Arbeit

Frauen um Alice Salomon, Kolleginnen, Weggefährtinnen, Freundinnen, vorgestellt von Studierenden und Lehrenden – unter dreizehn Beteiligten zwei Männer – finden im Jubiläumskalender „Begegnungen mit Alice Salomon – Kunstkalender zu Weggefährtinnen von Alice Salomon" zusammen. Karin Wolf-Ostermann, Professorin für empirische Sozialforschung, und Elke Kruse, Professorin für Soziale Arbeit, haben zum einhundertjährigen Jubiläum der Alice-Salomon-Hochschule einen Kalender zu Ehren der Namensgeberin herausgebracht und im Oktober 2008 der Öffentlichkeit präsentiert.

Da es kaum Hochschulen mit weiblichen Namen gibt, mag man sich über die Alice-Salomon-Hochschule einfach freuen. Viel schöner ist es zu erfahren, dass die Namensgeberin auch die Gründerin dieser Schule ist. Alice Salomon (1872-1948), Tochter aus gutem Berliner Hause, war 36 Jahre alt, als sie diesen Schritt wagte und die Soziale Frauenschule gründete. Sie gehörte zu jenen Frauen des 19. Jahrhunderts, die sich nach Tätigkeit sehnten, die sinnvolle, eigenständige Arbeit und ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisten wollten, was ihnen in der Regel versagt wurde.

 

Internationale Verbindungen, Korrespondenzen, Begegnungen belegen eindrucksvoll das erfolgreiche Wirken dieser kraftvollen Frau

Alice Salomon gilt als die Begründerin der Sozialarbeit als Beruf. Über die Arbeit in den Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit (seit 1893) und den Jahreskurs zur Ausbildung in sozialer Hilfsarbeit (ab 1899) führte sie die eigene berufliche Entwicklung beständig fort. 1906 gelang es ihr, das Studium der Nationalökonomie mit der Promotion zum Dr. phil. (Doktorin der Philosophischen Fakultät) an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, der jetzigen Humboldt-Universität, abzuschließen. Sie war – natürlich – eine der ersten Frauen, die den männlichen Olymp erklommen. Erst zwei Jahre später gestatteten die preußischen Behörden den Frauen diesen Schritt offiziell. Internationale Verbindungen, Korrespondenzen, Begegnungen belegen eindrucksvoll das erfolgreiche Wirken dieser kraftvollen Frau.

„Wir wollten die Welt verändern und glaubten dazu in der Lage zu sein. Das erste, was wir taten, war, unser eigenes Leben zu ändern."

 

Hatten alle Frauen so wie Alice Salomon gedacht?


Elly Heuss-Knapp (1881-1952) lernte Alice Salomon 1905 kennen. Über zwölf Jahre lehrte sie an deren Sozialer Frauenschule in Berlin. Dazwischen liegt ihre Heirat mit Theodor Heuss, dem späteren Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland. Bis in die Gegenwart wirkt das Müttergenesungswerk, das Elly Heuss-Knapp mitbegründete.
Rayna Petkova (1895-1957), die bulgarische Juristin, war 34 Jahre alt, als sie nach Berlin kam, geschickt, um bei Alice Salomon zu lernen. Das Gelernte investierte sie ertragreich in die Kinder- und Jugendarbeit ihrer Heimat. Für junge Mädchen entstand ein Asyl, für Straßenkinder ein Heim. Deutsche Schriften zur sozialen Arbeit übersetzte sie in ihre Landessprache und leitete den Präventionsdienst der Polizeidirektion Sofia.

 

Sie gab einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens aus, um die Lebensverhältnisse der mittellosen Bevölkerung nachhaltig zu verbessern.

Kaum größer konnten die Unterschiede in den wirtschaftlichen Verhältnissen europäischer Verhältnisse sein als zwischen Bulgarien und Großbritannien. Bulgarien erlangte 1908 seine Unabhängigkeit. Fast fünfzig Jahre vorher kam die Aristokratin Ishbel Maria Marjoribanks Lady Aberdeen zur Welt (1857-1939). Sicher schützten ihre Herkunft und die Eheverhältnisse – ihr Mann John Campbell Gordon war von 1905 bis 1915 Generalgouverneur von Kanada – sie vor Elend und harter Arbeit, aber blind machten sie sie nicht. Lady Aberdeen war eine Pionierin sozialer Arbeit in Großbritannien und gab einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens aus, um die Lebensverhältnisse der mittellosen Bevölkerung nachhaltig zu verbessern. Sie ließ sich nicht lange bitten, Präsidentin des International Council of Women zu sein, und war Vorbild für Alice Salomon. Eine Biographie der fortschrittlichen Britin haben die Autorinnen nicht finden können. Weibliche Biographien fehlen oft.

Über Anna von Gierke (1874-1943), Sozialpolitikerin, Pädagogin und Weggefährtin Alice Salomons, schrieb schon 1954 Marie Baum, die Heidelberger Chemikerin, die ebenfalls zur Sozialarbeit gestoßen war. Gierkeplatz und Gierkezeile in Charlottenburg erinnern auch an den Mut dieser Aktivistin der Berliner Geschichte, mit dem sie in der Bekennenden Kirche des nationalsozialistischen Diktatur entgegentrat.

Auch nach Agnes von Zahn-Harnack (1888-1950) konnte eine Berliner Straße benannt werden. Sie liegt im kleinen Frauenviertel vor dem Berliner Hauptbahnhof. Als 1908 die Frauen in Berlin und Preußen endlich studieren durften, holte sie ihr Abitur nach, schrieb sich am 6. Oktober als erste Frau an der Friedrich-Wilhelm-Universität ein und studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie. Zur Promotion wechselte sie nach Greifswald, da sich die Professoren ihres Fachs noch vor den Frauen fürchteten und sie behinderten, wo es nur ging. Agnes von Zahn-Harnack begründete den Deutschen Akademikerinnenbund mit, der die universitäre Frauenbildung unterstützte, wirkte in Frauenvereinen und ehrte ihre Freundin und Kollegin Alice Salomon mit einem Nachruf, den der Berliner Rundfunksender RIAS zum Tode der Sozialpädagogin 1948 ausstrahlte.

 

Ist Sozialarbeit Nächstenliebe?

 

Herbert Major nannte Frieda Duensing (1864-1921) „ein Genie der Nächstenliebe". Von der Juristin und Pionierin der Jugendfürsorge ist bekannt, dass sie mit dreißig Jahren ihr Abitur ablegte und doch ins Ausland gehen musste, um studieren zu können. In Berlin leitete sie die Zentrale für Jugendfürsorge. „Die soziale Arbeit ist das Amerika der Frau", sagte sie, nie müde zugleich ihre Forderung nach völliger Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu erheben.

Wenig Zeit, öffentlich zu wirken, blieb Jeanette Schwerin (1852-1899), die viele Jahre der Pflege ihres kranken Kindes widmete und bereits mit 47 Jahren starb. Dennoch gelang es ihr, Grundlagen der modernen sozialen Arbeit zu legen. Auch ihr war private Wohltätigkeit und öffentliche Armenpflege zum Ausgangspunkt politischen Engagements geworden. Jeanette Schwerin begründete die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur mit und stand der Berliner Sektion vor. Weg von der paternalistischen Wohltätigkeit hin zu sozialer Arbeit war das Ziel der Gesellschaft. Schwerin forderte, dass soziale Arbeit ein Ausbildungsberuf werden müsse und setzte diese Forderung mit Alice Salomon um.

Siddy Wronsky (1883-1947) legte ihr Lehrerinnenexamen ab und bildete sich als Heil- und Sonderpädagogin aus. Im Gegensatz zu vielen ihrer aus ursprünglich jüdischen Familien stammenden, assimilierten Kolleginnen, zog es Siddy Wronsky zur Religion ihrer Ahnen hin. Dementsprechend beteiligte sie sich an der jüdischen sozialen Arbeit, gab gemeinsam mit Alice Salomon sozialpädagogischen Schriften heraus und wirkte als Herausgeberin der „Zeitschrift für Wohlfahrtspflege".

Gemeinsam mit ihrem Mann Karl Schrader, dem Juristen und Politiker, gründete Henriette Schrader-Breymann (1827-1899) den Berliner Verein für Volkserziehung. Bei ihrem Großonkel hatte sie nach Töchterschule und hauswirtschaftlichem Praktikum einen Ausbildungskurs zur Kindergärtnerin machen können. Danach führte sie ihm, dem Pädagogen Friedrich Fröbel, den Haushalt, für kurze Zeit, unterrichtete und gründete schließlich ihre eigene Erziehungsanstalt. Ihre Vorträge machten die Fröbel-Pädagogik populär, für die sie in Berlin auch Kronprinzessin Victoria begeistern konnte. In ihrem zweiten Leben wollte sie sich „der Erziehung des männlichen Geschlechts" widmen.

 

Weil ihr der Weg zum Abitur versperrt blieb, gründete sie mit Freundinnen eine eigene Schule

 

Groß ins Bild gesetzt ist Betzy Kjellsberg (1866-1950) auf dem Fahrrad zu sehen. Die Hosen, die sie dabei trägt, sind auf dem unscharfen Photo nicht zu erkennen, wohl aber die übrige männliche Kleidung. Weil auch in ihrer Heimat Norwegen den Mädchen der Weg zum Abitur versperrt blieb, gründete sie mit Freundinnen eine eigene Schule, musste wegen Geldmangels dennoch auf die ersehnte Urkunde verzichten und gründete nach ihrer Heirat und neben der Erziehung von sechs Kindern einen Frauenverein, einen Sanitätsverein, den Norwegischen Nationalen Frauenrat und gelangte als erste Frau der Liberalen Partei in das kommunale Parlament. Nicht zuletzt dem Einsatz dieser Freundin Alice Salomons ist es zu verdanken, dass Norwegen im Jahre 1913 das Wahlrecht für Frauen einführte.

1931 erhielt die US-Amerikanerin Jane Addams (1860-1935) als zweite Frau nach Berta von Suttner den Friedensnobelpreis. Alice Salomon besuchte ihr Siedlungszentrum Hull House, das Janes Addams in einem Chicagoer Elendsviertel eingerichtet hatte. Die amerikanische Soziologin wirkte stark auf die Chicago School of Sociology. Das wird nicht verwundern. Erstaunlich war ihr Einsatz als Pazifistin, für den sie immer wieder angefeindet wurde, und die Offenheit, mir der sie ihre homosexuelle Partnerschaft zu Mary Rozet Smith vierzig lange Jahre lebte.

Die Bedeutung, die Notwendigkeit der sozialen Arbeit hat nicht abgenommen, seit Frauen sie „erfanden" und professionalisierten. Der Frauenanteil an der sozialen Arbeit ist wenig bekannt, obwohl die Alice-Salomon-Hochschule nicht die einzige Bildungseinrichtung ist, die sich diesem Bereich gesellschaftlichen Wirkens widmet. Der Kunstkalender erinnert geradezu liebevoll an diese Pionierinnen der Weltgeschichte. Zusätzliche Informationen, für alle Neugierigen, die mehr wissen möchten, liefert auf jedem Kalenderblatt eine Zeitleiste mit ergänzenden historischen und biographischen Daten. Der Quellennachweis gibt Auskunft über weiterführende Literatur.

Im Eingangsbereich der Alice-Salomon-Hochschule-Berlin gibt es seit dem 16. April zwei Gedenktafeln für die Frau, „die der Hochschule ihren Namen und die Leitideen für die Ausbildung in der Sozialen Arbeit, Gesundheit und Bildung gab: Alice Salomon." Zwei Meter hoch reicht der Text zu Leben und Werk, eingraviert in Stahl. Das Berliner Künstlerpaar Barbara und Klaus Noculak entwarf die Tafeln.

 

Gerhild H. M. Komander

Der Text erschien zuerst im "Berliner Lindenblatt" 2008.

 

Publikationen der Alice-Salomon-Hochschule Berlin zur 100-Jahr-Feier 2008

100 Jahre Soziales Lehren und Lernen.
Von der Sozialen Frauenschule zur Alice Salomon Hochschule Berlin
Mit Beiträgen von Adriane Feustel, Hedwig Rosa Griesehop, Gerd Koch, Elke Kruse,
C. Wolfgang Müller, Dietlinde Peters, Regina Rätz-Heinisch
Herausgegeben von Adriane Feustel und Gerd Koch.
Eine Veröffentlichung der Alice Salomon Hochschule Berlin
Berlin: Schibri-Verlag 2008

Alice Salomon. Lebenserinnerungen. Jugendjahre - Sozialreform - Frauenbewegung - Exil
Herausgegeben von der Alice Salomon Hochschule Berlin
Bearbeitet und aus dem Englischen übersetzt von Rolf Landwehr
Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2008

100 Jahre Alice Salomon Hochschule. 100 Jahre Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit
Soziale Arbeit, DZI (Hrsg.) / Doppelheft 2008 [Themenheft zum Jubiläum]
www.dzi.de, Telefon: 839001-23

ASFH: Alice-Salomon-Platz 5, 12627 Berlin, Hellersdorf

 

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