keun quMein Leben rast wie ein Sechstagerennen ...

Die Schriftstellerin Irmgard Keun, kein leichtes Mädchen

„Gilgi, eine von uns" erscheint 1931, wird 30 000 Mal verkauft. Da hat die Autorin wohl „eine Sensation durchgemacht", wie ihre Romanfigur Doris, „das kunstseidene Mädchen", sich ausdrückt. Kritiker, Männer und Frauen, über-schlagen sich, die einen vor Begeisterung, die anderen vor Empörung.

 

Sie ist 26 Jahre alt, schreibt einen Roman, der den etablierten Kollegen die Tränen in die Augen treibt – vor Vergnügen, die geborene Berlinerin Irmgard Keun. In der Meineckestraße 6, Berlin-Charlottenburg, steht ihr Elternhaus, in dem sie am 6. Februar 1905 zur Welt kommt.

„Gilgi, eine von uns" erscheint 1931, wird 30 000 Mal verkauft. Da hat die Autorin wohl „eine Sensation durchgemacht", wie ihre Romanfigur Doris, „das kunstseidene Mädchen" sich ausdrückt. Dieser zweite Roman folgt 1932. Kritiker, Männer und Frauen, überschlagen sich, die einen vor Begeisterung, die anderen vor Empörung. „Vorwärts" und „B.Z. am Mittag", „Velhagen & Klasings Monatshefte", „Die Literarische Welt", kaum ein Blatt, das sich nicht mit den Romanen der jungen Wilden beschäftigt.

 

"Das kunstseidene Mädchen"

Irmgard Keun nutzt die gesprochene Sprache als literarische Form. Das gibt ihren Romanen Tempo – um mit einem Schlagwort der Zeit zu sprechen – und bis heute Individualität und Aktualität. Wie fühlt sich eine junge Frau, die wie Doris Berlin in den dreißiger Jahren erlebt?

 

Gedankenblitze, Gedankenfetzen, Witz und Naivität mischen sich in dem als Tagebuchaufzeichnung ausgegebenen Roman „Das kunstseidene Mädchen":

„Ich hatte einen angenehmen Tag, weil der Letzte ist und Geldkriegen einem mit am meisten guttut, trotzdem ich von 120 – und Therese kriegt 20 mehr – 70 abgeben muß, was mein Vater doch nur versäuft, weil er jetzt arbeitslos ist und nichts andres zu tun hat. Aber von meinen 50 Mark hatte ich mir gleich einen Hut mit Feder gekauft – dunkelgrün – das ist jetzt Modefarbe, und steht mir herrlich zu meinem erstklassigen rosa Teint. Und ist schief auf der Seite zu tragen – kolossal fesch – und ich hatte mir bereits einen dunkelgrünen Mantel machen lassen – streng auf Taille und mit Fuchsbesatz – ein Geschenk von Käsemann, der mich durchaus beinahe heiraten wollte. Aber ich nicht. Weil ich doch auf die Dauer zu schade bin für kleine Dicke, die noch dazu Käsemann heißen. Und nach dem Fuchs hab ich Schluß gemacht. Aber ich bin jetzt komplett in Garderobe – eine große Hauptsache für ein Mädchen, das weiter will und Ehrgeiz hat."

 

Fernab von bürgerlicher Moral

Keun schafft weibliche Identitäten, fernab von bürgerlicher Moral und nahe an der Realität. Den Konservativen, selbstverständlich den Nationalsozialisten ist ihre Schreibweise ein Dorn im Auge. Nicht nur Doris, die Romanfigur, schüttelt sich vor Ekel, als die Nationalsozialisten an Boden gewinnen. 1933 werden ihre Bücher beschlagnahmt.

 

Zwei Jahre nach der Regierungsübernahme durch die NSADP emigriert Irmgard Keun, schreibt weiter, kehrt heimlich nach Deutschland zurück, kann bei den Eltern in Köln untertauchen und überlebt Krieg und Nationalsozialismus. Ihre Romane befassen sich weiterhin mit dem Erleben von Frauen in ihrer Zeit, nun unter ganz anderen Bedingungen. An ihre frühen Erfolge kann sie in der Bundesrepublik Deutschland nicht anknüpfen. Kein Platz für Querdenkerinnen in der jungen Republik. Am 5. Mai 1982 stirbt die Schriftstellerin in Köln.

 

Das Goethe-Institut hat Keuns Roman „Gilgi, eine von uns" ausgewählt für die Website „Deutschland erlesen", für die Städte Köln und Bonn. Längst ist es an der Zeit, die deutsche Literaturgeschichte neu zu schreiben. Nicht nur ist die Bresche, die die nationalsozialistische Dumpfheit schlug, größer, als wir dachten, die Lücke ist noch nicht einmal erfasst, weil das Werk derer, denen das nationalsozialistische Deutschland die Lebensläufe brach, weitgehend fehlt.

 

Gerhild H. M. Komander

Der Text erschien zuerst im "Berliner Lindenblatt" 2007.

 

Werke, Auswahl:

Irmgard Keun: Gilgi, eine von uns, Berlin: Ullstein Taschenbuch Verlag 2002

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, Berlin: Ullstein Taschenbuch Verlag 2005

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, Hörbuch auf vier Cds, gelesen von Fritzi Haberlandt, München: Ullstein Verlag 2003

Irmgard Keun: Nach Mitternacht, Amsterdam: Querido Verlag 2006

 

Über Irmgard Keun:

Gesche Blume: Irmgard Keun. Schreiben im Spiel mit der Moderne, Dresden: w.e.b. bei Thelem 2005

Irmgard Keun 1905/2005. Deutungen und Dokumente, herausgegeben von Stefanie Arend und Ariane Martin. Bielefeld: Aisthesis 2005

Hiltrud Häntzschel: Irmgard Keun. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001

 

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