Mit Kunst und List Interesse wecken: Clara Grunwald und die Montessori-Pädagogik

Sie entdeckt die Montessori-Pädagogik für Berlin und gründet zwischen Lankwitz und Wedding ein Kinderhaus nach dem anderen.

 

Ein ernstes Gesicht, der Anflug eines Lächelns um den Mund, die Lider unter schwarzen Augenbrauen leicht gesenkt: Clara Grunwald strahlt Ruhe aus. Die Art, wie sie den Kopf auf die Hand stützt, verrät viel Disziplin und etwas Eleganz.

Mit 19 Jahren nahm sie ihre Tätigkeit als Lehrerin auf. Viel ist nicht bekannt über die jungen Jahre der Pädagogin, die am 11. Juni 1877 in Rheydt zur Welt kommt und sechs Jahre später mit der Familie nach Berlin zieht.

 

... auch die Lehrer und Lehrerinnen sind zu erziehen

Sehr früh befasGrunwald2st sie sich selbständig und mit großer Skepsis mit Fragen der Kindererziehung und setzt sich das Ziel, „an der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen mitzuwirken". Und sie erkennt, dass nicht allein die Kinder, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer zu erziehen seien, an der eigenen, scheinbar „erwachsenen" Persönlichkeit zu arbeiten haben.

Vermutlich 1912 lernt Clara Grunwald das Buch von Maria Montessori (31. August 1870 – 6. Mai 1952) „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter" – so der deutsche Titel – kennen und setzt sich mit der Reformpädagogik der italienischen Medizinerin auseinander. Gar nichts hält sie davon, wie die Lehrer die Kinder durch Fragen und Antworten vor sich hertreiben, statt sich auf den Weg des Kindes einzulassen und zu schauen, wohin es geht, woran es denkt. „Daher heißt es, das Interesse des Kindes muß geweckt werden. Wie wird das erreicht? Der Lehrer muß mit aller Kunst und List versuchen, sich der Aufmerksamkeit des Kindes zu bemächtigen, von ihm hängt es ab, wie viel oder wie wenig Kenntnisse seine Schüler erwerben."

 

Vom Schleifenbinden bis zum Blumengießen

Maria Montessori eröffnet am 7. Januar 1907 in Rom das erste Kinderhaus, in dem die Kinder mit neuen Spielgeräten lernen. Sie schult Gehör und Tastsinn, das Sehen und Raumempfinden. Alltägliche Fähigkeiten vom Schleifenbinden bis zum Blumengießen gehören zum Lernen im Kinderhaus ebenso dazu wie Lesen, Rechnen und Schreiben.

grunwald quClara Grunwald gelingt es im Mai 1919, den Volkskindergarten in Lankwitz als Montessori-Kinderhaus einzurichten. Bürgermeister Otto Ostrowski unterstützt sie, Elisabeth Schwarz und Elsa Ochs unterrichten die Kinder. Die Gründerin berichtet, dass das Kinderhaus und die ihm folgenden Einrichtungen sehr schnell großes Aufsehen erregen – in Berlin, Deutschland und die Grenzen hinaus. In ihrer Wohnung in der Cuxhavener Straße 18 in Tiergarten richtet sie eine Montessori-Sprechstunde ein, gründet eine Montessori-Gesellschaft und bildet Montessori-LehrerInnen aus.

Der Erfolg der Arbeit Clara Grunwalds fällt in eine Zeit, in der viele Pädagogen neue Wege in Erziehung und Unterricht gehen möchten. Die erste deutsche Republik gibt ihnen Gelegenheit dazu. Berlin mit seiner mehrheitlich sozialistisch-sozialdemokratischen Bevölkerung zeigt sich offen für verschiedene Ansätze, eine große Reform im Schul- und Bildungswesen in Gang zu setzen. Das freie Lernen, der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen, die Schule als Lebensgemeinschaft.

In den Baracken - oder Pavillons - der weltlichen Schule auf dem Leopoldplatz richtete sie 1924 das erste Volkskinderhaus im Wedding ein. Es standen zehn Schulpavillons und eine Turnhalle als Notunterkünfte seit 1904 zwischen Malplaquet-, Nazarethkirch-, Max- und Schulstraße. Das waren transportable Bauten in Holzfachwerkbau.

 

Entlassung, Verfolgung, Ermordung

1933 – mit dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten – ist das Experiment, das längst beste Früchte trug, vorbei. Für Clara Grunwald geht mehr verloren als die erfolgreiche Arbeit vieler Jahre. Als Sozialistin wird sie aus dem Schuldienst entlassen und engagiert sich bei den Quäkern als Fluchthelferin. Sie nutzt ihre internationalen Verbindungen, um denen zu helfen, die in Deutschland bedroht werden. Sie selbst weigert sich zu fliehen, obwohl sie als Mitglied der jüdischen Gemeinde in höchster Gefahr ist, um zu helfen.

Am 8. November 1941 wird sie gezwungen, auf das Landgut Neuendorf im Sande bei Fürstenwalde überzusiedeln. Das Gut dient als Zwangsarbeitslager. Clara Grunwald betreut und unterrichtet auch hier die Kinder – selbstverständlich ohne Montessori-Material.

Mit dem 37. Transport in das Konzentrationslager Auschwitz wird Clara Grunwald mit den anderen Inhaftierten deportiert und ermordet. Ihr genaues Todesdatum ist unbekannt.

 

Gedenken im Wedding

1877 CLARA GRUNWALD 1943 /
RHEYDT AUSCHWITZ /

NICHT WENIGER ALS EIN MENSCH /
FÜR ANDERE MENSCHEN WOLLTE SIE SEIN. /
IM RHEINLAND LIEß SIE IHR JUDENTUM ZURÜCK. /
IN WEDDING FAND SIE KINDER, DIE IHRE HILFE BRAUCHTEN. /
IM REICHSSICHERHEITSHAUPTAMT FAND MAN /IHR JUDENTUM WIEDER. /

CLARA GRUNWALD GRÜNDETE DIE DEUTSCHE MONTESSORI-GESELLSCHAFT /
UND ERRICHTETE IM JAHR 1924 AUF DEM LEOPOLDPLATZ DAS ERSTE /
VOLKSKINDERHAUS. SIE VERZICHTETE AUF DIE MÖGLICHKEIT IHRES /
EIGENEN ÜBERLEBENS, UM 1943 BEI DEN IHR ANVERTRAUTEN KINDERN /
IM JÜDISCHEN UMSCHULUNGSHEIM IN NEUENDORF BLEIBEN ZU KÖNNEN.

Ruheplatz 13/Ecke Schulstraße (Wedding)
Besondere Ortsangabe: links neben dem Eingang zum Clara-Grundwald-Haus
Einweihung 31.10.1997
Initiatorin Hannelore Lauterbach, Frauenbeauftragte im Wedding

 

Leseempfehlung:

Inge Hansen-Schaberg: Clara Grunwald. Ein Leben für die Montessori-Pädagogik, Katalog zur Ausstellung in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung in Zusammenarbeit mit FrauenTreff Brunnhilde e.V., Berlin 2002. 48 S.

Manfred Berger: Clara Grunwald, in: www.Bautz.de/BBKL

 

Gerhild H. M. Komander

 

Der Text erschien zuerst im "Berliner Lindenblatt, 2007. Ergänzt 2012.

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