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(Siebenund-)Fünfzig Jahre Hansaviertel

1957 eröffnet die Internationale Bauausstellung Berlin ihre Pforten. Das Publikum strömt, um die Wohnbauten von Alvar Aalto, Walter Gropius, Pierre Vago und Max Taut zu sehen...

 

Die Stadtführung im Hansaviertel gibt es hier ...

 

Selten gehen diejenigen Menschen, die auch im Sommer mit der U-Bahn fahren müssen, so aufmerksam den U-Bahnsteig im Bahnhof Hansaplatz entlang wie in diesen Wochen 2007. Es gibt so viel zu sehen an den Wänden im Schacht: Alte und neue Bilder vom Hansaviertel, genau genommen vom südlichen Teil, und Zitate von ZeitgenossInnen und BewohnerInnen. Das Hansaviertel, das neue, feiert seinen fünfzigsten Geburtstag.

Am 5. Juli 1957 öffnete die Ausstellung Interbau Berlin ihre Pforten. Die Allgäuer Bergbau-Gesellschaft betrieb den Sessellift, der zwischen den S-Bahnhöfen Zoologischer Garten und Bellevue mit 95 Sesseln hin und her gondelte. 1,50 Mark kostete die Fahrt, 18 Minuten dauerte sie. 670 000 Fahrgäste nutzten ihn, bis die schöne Einrichtung im September 1958 abgebaut wurde. Am Hansaplatz stand ein Schaukran mit zwei Aussichtsgondeln, aus denen die Schaulustigen das neue Quartier ebenfalls von oben betrachten konnten.

 

Das alte Hansaviertel

Zwei Häuser am S-Bahnhof Tiergarten erinnern an die Jahrzehnte, in denen das Hansaviertel ein Viertel mit stadtbekannten Bewohnerinnen und Bewohnern war. Die Maler Hans Baluschek, Walter Leistikow und Lovis Corinth, die Schriftstellerinnen Alice Behrend, Nelly Sachs, Gabriele Tergit und Else Lasker-Schüler, der Chirurg August Bier, der Augenarzt Albrecht Graefe, der Verleger Walter de Gruyter, der Schauspieler Heinrich George ... Sie lebten in gründerzeitlichen Häusern mit großzügigen Salons an der Straßenseite, in schmalen Zimmern in den tiefen Seitenflügeln. Auch Rosa Luxemburg war für einige Zeit im alten Hansaviertel zuhause.

1874 parzellierte die Hamburger Immobilien-Gesellschaft die Schöneberger Wiesen in diesem Spreebogen und fing gleichzeitig mit dem Baubeginn der Stadtbahn an, Mietwohnungen für 15 000 Menschen zu errichten. Im November 1943 zerstörten Bomben die meisten Häuser. Das südliche Hansaviertel wies den höchsten Zerstörungsgrad des Zweiten Weltkriegs in Berlin auf. Von der alten Zeit erzählt Bertram Janiszewski in seinem Buch „Das alte Hansa-Viertel in Berlin - Gestalt und Menschen", das im Jahr 2000 bei Haude & Spener erschien.

 

Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg Krieg

Der Berliner Senat beschloss 1953 den – im wahren Sinne des Wortes – ruinierten Stadtteil wiederaufzubauen. Wiederaufbau hieß Neubau. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA), die 1957 stattfinden sollte, schrieb der Senat einen Wettbewerb aus, den die Architekten Willi Kreuer und Gerhard Jobst gewannen. Otto Bartning, der von 1955 bis 1959 als städtebaulicher Berater der Stadt tätig war und als Integrationsfigur der deutschen Architektenschaft gilt, überarbeitete den Siegerentwurf grundlegend.

In der DDR sprach man positiv von „Aufbau". Die Freiplastiken auf dem Platz vor dem Berliner Rathaus heißen – dementsprechend – „Aufbauhelfer" und „Aufbauhelferin". Von „Trümmerfrauen" ist hier nicht die Rede.

In West-Berlin schauten die Politiker aufgeregt auf die Prachtbauten der Stalinallee, deren ArbeiterInnen den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 begonnen - und verloren – hatten. Die Konkurrenten auf beiden Seiten bedienten sich der Architektur, um mit ihrer Hilfe die ideologisch fundierten Leitbilder zu propagieren.

 

In der Pressemitteilung der Akademie der Künste zur Ausstellung „die stadt von morgen" vom 5. April 2007 heißt es dazu:

„'Bereinigt' von Ruinen und Restgebäuden sollte im Rahmen der INTERBAU 1957 das Modell einer modernen ‚westlichen' Stadt entstehen: grün, nachbarschaftlich, funktional. Es war der Traum von der tabula rasa – ein Neuanfang ohne Rücksicht auf alte Strukturen des Stadtteils, ohne Erinnerungen an die Schrecken des Nazi-Regimes. Die große INTERBAU-Sonderschau ‚die stadt von morgen' sollte auch die Bewohner auf das Leben in der neuen Stadt vorbereiten. Die praktische Anleitung umfasste Vorschläge zur Raumaufteilung und Tapetenauswahl sowie Vorgaben zur Möblierung von Kinderzimmern und Einbauküchen für die zufriedene Hausfrau. Der ideologische Anschauungsunterricht, zu dem auch eine Seilbahnfahrt über das neue Viertel gehörte, erfreute sich größter Beliebtheit; die Sonderschau zog eine Millionen Besucher an." Abseits von „Retro-Boom und Jubiläumstaumel" will sich die die Ausstellung „die stadt von morgen" „dagegen den ideologischen Hintergründen, die der Architektur und Ästhetik des Viertels eingeschrieben sind", nähern.

 

Die Internationale Bauausstellung 1957 in Berlin

Die Grundgedanken der Bauaustellung bestanden darin, das Grün des Tiergartens in die neue Bebauung einzubeziehen, Wohn- und Verkehrsstraßen voneinander zu trennen und die Grünräume durch unterschiedlich hohe Baukörper in einer rhythmisch freien Anordnung zu akzentuieren. Dazu war ein außerordentlicher Aufwand notwendig.

Die Planer ordneten die Straßenverläufe und die Grundstücks- und Eigentumsverhältnisse vollkommen neu. Zehn Prozent der Hauseigentümer „mussten" enteignet werden. Das Ergebnis war, dass die Wohnbauten bei gleicher Bevölkerungszahl nur 15 Prozent der gesamten Fläche bedeckten.

Der Internationale Stil löste den in den zwanziger Jahren propagierten reformierten Wohnungsbaustil ab. Nicht Flachbauten, sondern mehrheitlich Hochbauten entstanden: Zeilenbauten, Punkthochhäuser und Scheibenbauten entstanden zwischen Straße des 17. Juni, Hanseatenweg und Stadtbahntrasse.

Den aufgerufenen Architekten (Frauen waren nicht beteiligt) öffnete sich ein weites Experimentierfeld. Doch die vorgeschlagenen Lösungen für die geforderten Kleinwohnungen gerieten nach der Bauausstellung in Vergessenheit. Die erhoffte Wirksamkeit unterlag der rein quantitativen Bedarfsbefriedigung, die den Wohnungsbau der sechziger und siebziger Jahre kennzeichnet.

 

Ein Spaziergang durch das südliche Hansaviertel

An der Joseph-Haydn-Straße am S-Bahnhof Tiergarten steht – inzwischen als Fastfood-Restaurant genutzt – der Berlin-Pavillon von Hermann Fehling, Daniel Gogel und Peter Pfankuch. Gegenüber an der Klopstockstraße erhebt sich das erste der Punkthäuser, das 17stöckige Appartementhaus von Klaus Müller-Rehm und Gerhard Siegmann.

In der Klopstockstraße verdecken vier Zeilenbauten, schräg zur Straße gestellt, das S-Bahn-Viadukt. Hans E. Chr. Müller, Günther Gottwald, Wassili Luckhardt und Hubert Hoffmann sowie Paul Schneider-Esleben experimentierten hier mit Flachbauten, die Tiefe des Grundrisses füllende Wohneinheiten. Überregional bekannt von diesen Architekten war Wassili Luckhardt, dessen berühmteres Bauten in der Schorlemer Allee stehen.

Ein „Umweg" über die Händelallee ist Pflicht. Gleich zu Beginn steht die der Sonne zugewandte, gebogene Scheibe von Walter Gropius mit großzügigen Dreizimmerwohnungen.

 

Im Hintergrund der Allee, die gar keine Allee, sondern ein Rundweg ohne die begleitenden Bäume ist, erhebt sich mit der Längsseite nach Westen gerichtet der Beitrag des Franzosen Pierre Vagos. Mehrgeschossige Wohnungen, deren Stockwerke übergreifendes Volumen gerade hier an der Schmalseite gut zu erkennen sind.

Auf der rechten Seite erhebt sich aus dem Wald die Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche II von Ludwig Lemmer. Anstelle des alten Backsteinbaus zeigt sie sich als Betonwerk mit filigranem Glockenstuhl, ganz offen - in der Tradition der barocken Berliner Kirchtürme, auf die als einziger derjenige der Sophienkirche in der Großen Hamburger Straße noch verweist.

Ihr gegenüber liegt die Einfamilienhaus-Siedlung mit Beiträgen von Sergius Rugenberg, Arne Jacobsen und anderen. Sie stehen einzeln auf Kleinstgrundstücken und verbunden als Teppichhäuser an der zur Fußgängerpromenade gestalteten Lessingstraße.

 

Die Straße führt direkt zur Hansabücherei, deren Pavillon Werner Düttmann mit dem U-Bahnhof verband. Links davon ist das Doppelhaus von Alvar Aalto zu sehen, dessen Wohnungen längst verkauft sind. Sie waren begehrt.

Über die Kreuzung von Klopstockstraße und Altonaer Straße gelangen die Architekturbegeisterten zum zweiten Teil des Viertels. Hier dominieren die Punkt- und Scheibenhäuser. Um den nördlichen U-Bahn-Ausgang gruppieren sich mehrere Pavillons zum Einkaufszentrum. Das weltbekannte Grips-Theater hat in einem davon seinen Sitz. Nur in den Fahrstuhl steigen, wenige Schritte gehen, im Laden stehen: Das war das Motto der neuen Zeit.

 

Im Winkel zwischen Altonaer Straße und Bartningallee zwei mächtige Scheibenhäuser, von Egon Eiermann und Oscar Niemeyer. Im Bogen der S-Bahntrasse ein Punkthaus neben dem anderen: Luciano Baldessari, van den Broek und Bakema, Gustav Hassenpflug, Eugène Beaudouin und Raymond Lopez sowie jenseits der Bartningallee Hans Schwippert.

Im Hanseatenweg finden sich die Beiträge von Max Taut, gleich zu Beginn, Franz Schuster, Kay Fisker und Otto H. Senn. Diese Wohnbauten fassen drei und vier Stockwerke auf ganz und gar individuellen Grundrissen, die die Schemata von Zeile, Punkt und Scheibe durchbrechen.

Den Abschluss bilden die Bauten der Akademie der Künste, die Werner Düttmann 1959/60 dem neuen Hansaviertel hinzufügte. Das Café, stets unabhängig vom Besuch der Ausstellungen und Veranstaltungen zu genießen, ist ein beliebter Ruhe- und Treffpunkt.

 

Gerhild H. M. Komander

 

Der Artikel erschien zuerst im "Berliner Lindenblatt", Nr. 10, Juni 2007.

 

Leseempfehlungen:

Stefanie Schulz und Carl G. Schulz: Das Hansaviertel - Ikone der Moderne, Berlin: Verlagshaus Braun 2007. 144 S. Mit 120 farbigen Abbildungen. 19,90 Euro

Peter, Frank M.: Das Berliner Hansaviertel und die Interbau 1957, Erfurt: Sutton Verlag 2007. 96 S. Mit 160 Schwarzweißaufnahmen. 17,90 Euro

Dolff-Bonekämper, Gabi: Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin, Berlin: Huss-Medien 1999. 208 S. Mit 204 Farb- und Schwarzweißabbildungen. 45,00 Euro

Das Hansaviertel in Berlin. Bedeutung, Rezeption, Sanierung, herausgegeben vom Landesdenkmalamt Berlin, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007. 300 S. Mit 300 Abbildungen. 39,80 Euro

 

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