Kranzler1 quDer Kurfürstendamm. Ein Blick auf die ersten Jahrhunderte

Die Straße ist lang, sehr breit, sie ist belebt bei Tag und Nacht. Sie berührt alle Bereiche menschlichen Daseins. Die Straße fasziniert durch historische Vielfalt - und gegenwärtige, durch Gegensatz und Einheit

in Kunst und Kommerz, Widerspruch künstlerischer und gesellschaftlicher Positionen. 

Und Bismarck hatte doch recht. Weitblickend, wie der große Diplomat des 19. Jahrhunderts wirkte, auch wenn er nicht intrigierte, sagte er dem Kurfürstendamm eine großartige Karriere voraus und der Stadt Berlin ein unerhörtes Wachstum.

Das hätte sich Kurfürst Joachim II., jener Kurfürst, der die Reformation im Lande einführte und die Jungfrauen der Residenzstadt gern zu einer Schlittenfahrt einlud, nicht träumen lassen. Er hätte es sich nicht träumen lassen, daß aus seinem, des Kurfürsten, Damm, der ihn vom Tiergarten zu seinem Jagdschloss im Grunewald bringen sollte, eine der berühmtesten deutschen Straßen werden sollte. Was bedeutete damals Deutschland?

 

Ein Damm mit vielen Vätern

Joachim II. ließ den Knüppeldamm 1542 erbauen. Aber erst auf dem Plan von La Vigne, der im Jahre 1685 erschien, wird der kurfürstliche Damm das erste Mal angegeben. Weitere achtzig Jahre später bezeichnet Friedrich Wilhelm Carl Graf von Schmettau (1743-1806) den Weg erstmals als „Kurfürstendamm" (1767/87). Die Planungen des Baumeisters James Hobrecht sehen den Ausbau des Damms als Wohnstraße vor. Otto von Bismarck - er ist noch nicht Fürst von Königs Gnaden – schlägt seinem König, der ein ebenso leidenschaftlicher Reiter wie er selbst ist, vor, den Reitweg durch den Tiergarten zu verlängern und den Kurfürstendamm unter diesem Gesichtspunkt auszubauen.

Nicht so schnell, aber doch, es geschieht. Erst muss man den Deutsch-Französischen Krieg abwarten, doch als der Friede zu Versailles 1871 geschlossen ist, wird tatsächlich aus dem Kurfürstendamm ein Boulevard, nach dem Vorbild der Avenue des Champs Elysees, wie Bismarck – eben aus Paris zurückgekehrt – es wünscht. Kaiser Wilhelm I. erlässt 1875 eine Kabinettsordre, und der Damm wird auf 53 Meter Breite gebaut. Die Kurfürstendamm-Gesellschaft übernimmt die Erschließung der Baugrundstücke. Die Warnung vor dem Mietwohnungsbau bleibt ungehört, die Spekulation beginnt. Um das Jahr 1900 ist der Kurfürstendamm zwischen Landwehrkanal und Uhlandstraße weitgehend bebaut. Der Zug nach Westen, die kolossale Ausdehnung der Stadt Berlin, hat begonnen.

 

Das Café, der zweite Wohnsitz

Mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erhält der Kurfürstendamm 1891 nicht nur die heute populärste Kirche der deutschen Hauptstadt, sondern wenige Jahre später auch einen der wichtigsten Orte deutscher Literatur, das Romanische Café. Die Kirche von Franz Schwechten überstand den Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbau in den fünfziger Jahren, weil sie Mahnmal wiederhergestellt wurde.

Das Café, das seine Karriere als Konditorei Hotel Kaiserhof und Treffpunkt der Politik und Wirtschaft begann, wird in der ersten deutschen Republik zum zweiten Wohnsitz von Else Lasker-Schüler, der Erfinderin des Expressionismus in der Literatur. Sie trifft Otto Dix, Hugo Lederer, Billy Wilder, Bruno Cassirer und tausend andere. Als sie 1933 geht, geht die deutsche Kultur zugrunde. 1963 wächst das Europa-Center an der Stelle aus dem Boden.

 

KünstlerInnen regieren

Im Ufa-Palast, der heute Zoo-Palast heißt, „regieren" und spielen Friedrich Wilhelm Murnau, Ernst Lubitsch, Fritz Lang, Veit Harlan, Pola Negri, Brigitte Helm und viele andere KünstlerInnen, die Berlin den Ruf einer Film-Metropole schenken.

Nicht weit entfernt davon steht das Gebäude, in dem das Lichtspielhaus Marmorhaus, verkleidet mit weißem, schlesischem Marmor, den Film uraufführt, der weltweit als der bekannteste deutsche Film gilt:

„Das Kabinett des Doktor Caligari". Schräg gegenüber, in der Nummer 12, feiert ein begeistertes Publikum am 1. April 1930 die Uraufführung des Filmes „Der Blaue Engel" und die Schauspielerin Marlene Dietrich, die den etablierten Kollegen Emil Jannings – im Film – ins Unglück stürzt.

Die „traditionellen" Künste, die bildenden Künste, ziehen 1915 in das Haus Kurfürstendamm 232 und geben der Straße einen weiteren bemerkenswerten Akzent. Die Berliner Secession, dessen Mitbegründer Walter Leistikow derzeit im Bröhan-Museum zum einhundertsten Geburtstag mit einer wunderbaren Ausstellung geehrt wird, zieht ein. Sie prägt den Begriff „Expressionisten" für die Maler der Künstlervereinigung Brücke.

Hans Baluschek, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz, Max Liebermann, Max Slevogt, Lesser Ury und Heinrich Zille setzen die Anregung Leistikows um und gründen einen Kunstverein jenseits des offiziellen Salons. Sie opponieren offen gegen das konventionelle, historisierende Kunstverständnis Kaiser Wilhelms II. Von Beginn an sind Frauen zugelassen, immerhin.

 

Expressionismus und Größenwahn

Eine Institution ist von Anfang an das Café des Westens, das 1893 im Haus Nr. 18/19 eröffnet wird, 1898 den später berühmten Namen erhält und lange vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, also auch deutlich vor den „goldenen zwanziger Jahren", der Mittelpunkt des literarischen Expressionismus wird. 1920 ensteht das Kabarett Café Größenwahn im Obergeschoss.

Ein Kreis von KünstlerInnen sammelt sich um das Ehepaar Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden. Paul Cassirer und Tilla Durieux, Christian Morgenstern, Richard Dehmel, Alfred Döblin, Erich Mühsam, Richard Strauss, Frank Wedekind, Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Klabund und Joachim Ringelnatz: Namen, die deutsche Literatur und Schauspielkunst um die Welt tragen. In einem Nebenraum etabliert Max Reinhardt 1899 das Kabarett „Schall und Rauch". Friedrich Hollaender spielt Klavier, Blandine Ebinger und Gussy Holl tragen vor.

 

Der Berliner wird Flaneur

1929 schreibt Franz Hessel, der Stadtspaziergänger, Tauentzien und Kurfürstendamm haben die „hohe Kulturmission, die Berliner das Flanieren zu lehren. (...) Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben. Um richtig zu flanieren, darf man nicht allzu Bestimmtes vorhaben."

Dazu passen die modernen Restaurants und Cafés. Ob Kempinski oder Kranzler: Die Welt zieht nach Westen. In den Städten wohnen die Wohlhabenden immer im Westen, weil der Wind die schmutzige Luft wegträgt.

Die Künstlerschaft bleibt, zieht um, wenn es sein muss, aber prägt in den zwanziger Jahren wesentlich das gesellschaftliche Leben, aus den Cafés um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskriche.

Kempinski und Kranzler, die ihren legendären Ruf bis in die Gegenwart bewahren, entstehen als Filialen der Ursprungsorte in der Mitte der Stadt - damals als Osten empfunden. Bald darauf übernehmen die Nationalsozialisten, gestützt von Hochfinanz, Großbürgertum, Militär, die Regierungsgewalt. Sie zerstören die deutsche Kultur, nicht nur am Kurfürstendamm.

 

 

Leseempfehlung:

Regina Stürickow: Der Kurfürstendamm. Gesichter einer Straße, Berlin 1995

Jürgen Schebera: Damals im Romanischen Café, Braunschweig 1988

Karl-Heinz Metzger und Ulrich Dunker: Der Kurfürstendamm. Leben und Mythos des Boulevards in 100 Jahren deutscher Geschichte, Berlin 1986

Georg Zivier: Das Romanische Café, Berlin 1966

Uwe Wiemann: Kurt Tucholsky und die Politisierung des Kabaretts. Paradigmenwechsel oder literarische Mimikry?, Hamburg 2004

 

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