| Nr. 22, Juni 2008 |

Briefe sortieren im Café Dix

Von HENNY BEHM

Es ist nichts Außergewöhnliches an diesem Tag. Ruhig ist es in der Alten Jakobstraße, der Himmel verhangen, gelegentlich dunkelgrau. Auf den Tischplatten steht das Wasser, aus dem Stuhlgeflecht tropft der letzte Regenguss. Also sitzen die Gäste drinnen. Hier hat sich die frühsommerliche Wärme gehalten. Rauchfrei ist's auch. Und da die Café-Terrasse offen steht, mischen sich auch nicht die nun rauchlosen Gerüche wild durcheinander zu den unkalkulierbaren Cocktails, die die Gäste mancherorts irritieren.

Im Café Dix machen die BesucherInnen Pause, überdenken Gesehenes in den Räumen der Berlinischen Galerie, schwatzen über die Themen, die vor „Big Sandwich", dem Streifen-Punkt-Linien-Bild des Vattenfall-Preisträgers aus den Niederlanden, Ronald de Bloeme heißt er, unpassend schienen und auch in der „Art Show" von Nancy Reddin und Edward Kienholz nicht recht über die Lippen flutschten, freuen sich über die gelungene Verabredung und runden den Kunstgenuss mit einem Café-Besuch ab.

„Ich brauche die Verbindung zur sinnlichen Welt, den Mut zur Hässlichkeit, das Leben ohne Verdünnung," sagte Otto Dix. Seine Worte stehen an der Wand zur Terrasse hin. Die meisten Menschen lesen das aber nicht. Die Verbindung zur sinnlichen Welt suchen sie auch. Von der Kunst an der Wand zur Kunst auf dem Tisch, ein Tag ohne Computer-Bildschirm oder so ...

Ein Herr sitzt allein am Tisch neben der Terrassentür. Ein Stapel Briefumschläge liegt vor ihm. Sonst begnügt er sich, wie es scheint, mit stillem Wasser, Lesebrille, Füllhalter. Die schon verschlissenen Briefumschläge, ein Dutzend wohl, mehr nicht, sind dick. Linierte, nur spärlich beschriebene Briefbögen zieht der Besitzer aus ihnen hervor. Was mag die steife, schwer lesbare Schrift (das ist auch aus der Entfernung von zwei Tischen zu erkennen) festgehalten haben?

Er greift nach dem nächsten Umschlag, nimmt die Bögen heraus, betrachtet sie kurz, legt sie fort, steckt sie zurück, nimmt einen anderen Umschlag in die Hand, zieht das Papier hervor, schaut flüchtig auf die Buchstaben, legt das Papier in den Umschlag, legt den Umschlag ab, lehnt sich zurück ... und so weiter und so fort. Ist ein akademisches Werk im Entstehen? Sind hier Gedankengänge komplexer Strukturen eines wissenschaftlichen Buches sorgfältigst niedergeschrieben und harren der weiteren – vor allem gedanklichen – Bearbeitung?

Der Herr scheint unschlüssig, ein wenig unruhig, schließlich steht er auf, steckt den Stapel Briefe in die große Innentasche seines Blousons, drückt der Kellnerin einige Münzen in die Hand, greift nach Wasserflasche und Kopfbedeckung, schaut noch einmal um sich, ob er nichts liegengelassen hat, holt die Armbanduhr hervor und bindet sie und das rechte Handgelenk. Das Wasser! Er hat das Wasser gar nicht getrunken. Fast voll steht das Glas auf dem Tisch. Und er hat es doch eben bezahlt! Er nimmt einen Schluck, braucht noch einen großen, um das Glas wenigstens zur Hälfte zu leeren, und verlässt – weiterhin unschlüssig - das Café.

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- © henny behm 6/08 -

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