Thomas Urban: Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre

Es waren einmal zwei „russische Jahre“ in Berlin, von Herbst 1921 bis Ende 1923. Es waren Jahre, in denen der russische Rubel mehr wert war als die deutsche Mark. Es waren merkwürdige Zeiten. Von 600 000 Russen, die in dieser Zeit ihre Heimat verließen, suchten die meisten Zuflucht in Berlin. Und selbst nach dem großen Auszug nach der Einführung der Rentenmark – zurück in die Heimat und nach Paris – blieben 180 000 EmigrantInnen zurück.

Sie lebten in Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg, die materiell besser gestellten in Tiergarten. In der russischen Kolonie war Berlin die „Stiefmutter der russischen Städte“, der Kurfürstendamm der „NEPski-Prospekt“ – in Anspielung an Lenins „Neue Ökonomische Politik“ mit der russischen Abkürzung NEP. Deutsche und Russen waren wie Wasser und Öl. Nahe kam man sich nicht. Aus den hunderttausenden Menschen greift Thomas Urban zwölf SchriftstellerInnen heraus, die sich in Berlin niederließen, berühmte und berühmt werdende.

Ihr Zuhause lag zwischen Zimmerstraße (Mitte), wo die russische Tageszeitung „Rul“ im Haus des Ullstein-Verlages Unterkunft fand, Goltzstraße, Trautenaustraße und Kirchstraße (Moabit). Die Schreibtische standen ebenso im Café Josty wie in den Cafés am Nollendorfplatz und am Prager Platz. 1923 erschienen in Berlin 39 russische Zeitschriften, es existierten 86 russische Verlage und Buchhandlungen: In Berlin wurden mehr Bücher auf Russisch veröffentlicht als in Moskau und St. Petersburg.

Thomas Urban beschreibt nicht die literarische Arbeit, sondern die Lebensumstände derer, denen sich sein Buch widmet. Die Literaten kamen nicht aus Interesse, sondern aus materieller Vorteilsnahme nach Berlin, lieber hätten sich die meisten in Paris gesehen. Doch dort wollte man sie nicht, das Pariser Leben war zu kostspielig. So blieb man in Berlin. Freundschaften mit deutschen Kolleginnen und Kollegen gab es nicht, Kontakte überhaupt wenige. -

Ernüchtert legt man das Buch nach wahrlich spannender Lektüre zur Seite: Die Größen der russischen Literatur, Ilja Ehrenburg, Maxim Gorki, Wladimir Majakowski, Alexej Tolstoi, erweisen sich zum großen Teil als unsympathische Helden, als selbstsüchtig und sozial inkompetent. Die kurzen Fortschreibungen der Lebensläufe nach den Berliner Jahren stellen den systematischen Terror und die Willkür der sowjetischen Regierung bloß. Intrigen, Kollaboration, Bespitzelung folgten den Männern und Frauen nach Berlin und drangen in die letzten Winkel ihrer Privatsphären ein. Viele der genannten Personen, Freunde und Gegner des Systems, wurden in den Schauprozessen Stalins hingerichtet. – Zum Lesen unbedingt empfohlen sei das Buch, auch um den goldigen zwanziger Jahren noch einen Zacken aus der Krone zu brechen.

Thomas Urban: Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre, Berlin: Nicolai 2003. 240 S. Mit 52 Schwarzweißabbildungen.

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